Der Jeverländische Altertums- und Heimatverein in seiner Geschichte
Volker Landig
Festvortrag zum 125jährigen Jubiläum des Vereins, gehalten im Schloss Jever am 15. Mai 2011
Am 9. September 1886 berichten die Jeverländischen Nachrichten von der bevorstehenden Gründung eines Vereins für "Jeverländische Alterthumskunde". Eine Commission zum Entwurf von Vereinsstatuten sei an der Arbeit. Unmittelbarer Anlass für diese Aktivitäten ist das 100-jährige Jubelfest des Jeverschen Schützenvereins im Sommer des Jahres gewesen. Da hatte man einen großen historisch ausgerichteten Festumzug veranstaltet, in dessen Mittelpunkt eine patriotisch-populäre Aufbereitung der Geschichte des Jeverlandes stand. Der Schwerpunkt lag auf einer volkstümlichen Präsentation der Gestalt des Fräulein Maria von Jever und ihres bedeutendsten Nachfolgers, des Grafen Anton-Günther von Oldenburg. Der bis heute in Jever gepflegte Maria-Kult dürfte seine Ursprünge in diesen Ereignissen von 1886 haben. Hier wurde patriotische Identifikationsmöglichkeit geboten, und die historisch interessierten kritischen Geister jener Zeit nahmen die Anregungen auf, setzten sie um in wissenschaftliche Fragestellungen, stellten sich die Frage: Was ist eigentlich in unserer Heimat alles an verborgenen Dingen vorhanden, die uns den Blick dafür öffnen könnten, wie wir zu dem geworden sind, was uns heute von Menschen in anderen Regionen vielleicht unterscheidet? Was ist uns verloren gegangen im wechselnden Lauf der Zeiten unter den verschiedenen politischen und kulturellen Blickwechseln?
Nach dem großen Münzfund im Jahre 1850 war schon einmal ein "Verein für heimatliche Altertumskunde" gegründet worden, aber bald wieder eingegangen. Aus Oldenburg, der Zentrale des Großherzogtums, klang immer wieder das Begehren herüber, die heimatkundlichen Interessen und wissenschaftlichen Bedürfnisse in Oldenburg zu bündeln, was in Jever durchaus nicht auf Gegenliebe stieß. 1884 hielt in Jever der Oldenburgische Landesverein für Altertumskunde seine Generalversammlung ab. Hier wurde die Überzeugung ausgedrückt, dass "gerade im Jeverlande noch manches für die historische Wissenschaft und die Alterthumskunde Wertvolle verborgen oder im Privatbesitz zerstreut sich befindet, was ans Licht gezogen bzw. gesammelt werden müsse" (Jev. Nachr. 9.9.1886). Gedacht war an bürgerliches und bäuerliches Kulturgut vergangener Zeiten, dem Gefahr drohte in einer Zeit
großer wirtschaftlicher und kultureller Umbrüche. Von zu erwartenden Bodenfunden in den zahlreichen Warfen unserer Landschaft war die Rede und von auf der Geest vermuteten Hügelgräbern, von deren Vorhandensein in Moorwarfen Baurat Tenge in einem Vortrag berichtet hatte.
Wie sah Jever im Jahr 1886 aus? Einen Stadtplan aus diesen Jahren gibt es leider nicht, der letzte stammte aus dem Jahr 1840, die Information über die seitherige Entwicklung kann man der Preußischen Landesaufnahme von 1891 entnehmen. 1840, und in den beiden folgenden Jahrzehnten war es kaum anders, hörte die Stadt Jever an den Graften auf. Die östliche Vorstadt bis herunter zur Schlachte war dicht besiedelt, ebenso die St. Annenvorstadt mit Elisabethufer, Blauer Straße und Hohlem Weg. Einige wenige Häuser säumten die Ausfallstraßen nach Cleverns, Wittmund und Schortens über Siebetshaus. Jever war, wie die meisten anderen Städte auch, bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts kaum über seine seit dem Mittelalter bestehenden Grenzen hinausgewachsen. Vom Jeverland aus war die Stadt in dieser noch nicht motorisierten Zeit schlecht erreichbar. Es gab die beiden heutigen Kreisstraßen nach Norden, zum Teil noch nicht gepflastert und seit dem Beginn des 19. Jh den schmalen Steinpfad über Wiefels nach Ziallerns. Ich erinnere mich an einen mündlichen Bericht aus der Jugendzeit des 1894 in Middelswarfen bei Tettens geborenen und 1976 verstorbenen Landwirts Johann Rohlfs. Er wusste zu erzählen, dass sie noch um die Jahrhundertwende ihren Hof von Oktober/November bis nach Ostern kaum verlassen konnten, weil sie auf den Kleiwegen versanken.
Seit 1871 bietet sich durch den Bau der Bahnstrecke von Sande nach Jever und später weiter nach Wittmund, 1886 im Gründungsjahr des Vereins, durch die weitere Strecke entlang der ebenfalls neuen Kreisstraße über Wiefels nach Carolinensiel ein ganz anderes Bild. In der Stadt sind die Wälle beseitigt, Jever ist durch seinen Bahnhof zum zentralen Viehumschlagplatz geworden. Die Ausfallstraßen nach Süden, Norden und Westen sind noch nicht nennenswert erweitert, für den Verkehr mit Fuhrwerken und Kutschen reichen sie einstweilen. Auffallend viele Gartenbaubetriebe haben sich in der Südergast, auf der Pannewarf und in der südlichen Vorstadt (heute die Gegend um Bahnhofsweg, Raiffeisenstraße und Rheiderlandweg) etabliert. Südlich der neuen Bahnlinie leben nun auch Bahnbedienstete. Die große Zahl der Gemüsegärtner ist ein Hinweis auf die Zunahme der Bevölkerungszahl, aber auch auf die Nähe zur rasant sich entwickelnden Marinedoppelstadt Wilhelmshaven und Rüstringen. Seit 1872 steht weit außerhalb der Stadt zwischen Siabbenmoor und Gotteskammer der damals gewiss als riesig erlebte neue Schützenhof, der 1880 durch einen großen Saal und 1886, im Gründungsjahr des Alterthumsvereins, eine elegante Veranda erweitert wird. Der eindrucksvolle wirtschaftliche Aufstieg wird sich am Ende des Jahrhunderts durch die Entwicklung im Bahnhofsbereich mit Lagerhäusern, Viehställen, mit der Bahnhofsmühle und der Molkerei zeigen, während auf der anderen Seite der Stadt, an der Schlachte, die Aufgabe des Hafens in den 60er Jahren zum wirtschaftlichen Rückschritt geführt hat. Seit 1876 ziert den Kirchplatz der neue, etwas klobig geratene und später, 1902 durch die hohe Spitze ergänzte Glockenturm; an der Wasserpfortstraße ist 1880 die eindrucksvolle Synagoge mit ihrer hohen Kuppel und vier Ecktürmen entstanden. Die neue katholische Kirche wird erst 1901 folgen.
Im Zentrum setzt sich die Verdichtung der Besiedlung fort, teils mit stattlichen Villen, die von der prosperierenden Lage der Landwirtschaft Zeugnis geben. Am Ende des 20. Jahrhunderts sind wir bei der Verdreifachung der Einwohnerzahl gegenüber der Zeit nach der Reichsgründung angelangt.
Das ist die Situation, in welcher die Jeveraner in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Stadt erleben. Und die Menschen hier haben, wie gesagt, nicht nur die Stadt, sondern die Entwicklung des ganzen Jeverlandes im Blick, die Technisierung der Landwirtschaft, die Verkehrsentwicklung, die Zunahme der Kommunikation, den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Reichsgründung. Und auch damals haben sie, wie wir heute, die Entwicklung als rasant erlebt, und sie waren nicht ohne Sorge. Fortschritt ist immer auch mit Verlust verbunden. Neuerungen führen nicht nur zu größerer Bequemlichkeit, sondern tragen auch bei zur Verunsicherung derer, die sich den angebotenen Kulturtechniken nicht gewachsen fühlen.
Übertragen auf die kleine Residenzstadt Jever bedeutet dies auch: Mit jedem neuen Haus wird mehr Boden versiegelt, jeder Spatenstich ist ein Eingriff in die Natur- und Kulturgeschichte. Jeder junge Mensch, der nach der Schulzeit die Heimat verlässt, nimmt geistige und materielle Dinge mit, jeder Besitzerwechsel eines Hofes oder eines Handwerksbetriebes bringt nicht nur einen ideellen Schub, immer wird auch Altes aufgegeben oder weggeworfen.
Das war damals nicht anders als heute. Nur ein Museum mit der entsprechenden wissenschaftlichen Begleitung kann helfen, der komfortablen Entwicklung die Erinnerung an die Seite zu stellen. Und beides brauchen wir. Ich verweise auf die präzise Darstellung der Anfänge des Altertumsvereins, die Antje Sander in ihrem Aufsatz "Friesenstolz und Heimatsinn" 2002 veröffentlicht hat, und brauche die Einzelheiten hier nicht zu wiederholen. Als Resümee ihrer Darstellung ergibt sich: Die ausgeprägte wissenschaftliche Ausrichtung der Vereinsarbeit, die enge soziale Bindung an die Honoratioren der Stadt und die Vernetzung mit den regionalen Wissenschaftlern wie Baurat Tenge und dem Oldenburger Archivrat Georg Sello, war einerseits unumgänglich für eine verantwortbare Arbeit, andererseits aber gelang es nicht, die vielen interessierten Bürger Jevers und des Jeverlandes auf Dauer an das Vereinsleben zu binden. Das Verzeichnis der Vereinsvorsitzenden von 1887 bis zur Gründung des zweiten jeverschen Vereins, des Heimatvereins von 1920, ist ein aufschlussreicher Beleg einerseits für die hohe politische Wertschätzung des Unternehmens Altertumsverein und Gründung eines Museums, andererseits kann es nicht zur Bodenhaftung eines Vereins beitragen, wenn alle fünf aufeinander folgenden Vorsitzenden seit 1887 Amtshauptmann in Jever waren. Der häufige Wechsel in diesem Amt war sicherlich der Kontinuität abträglich: August Hayessen (1887 – 1888); Heinrich Zedelius (1888 – 1901); Gustav Bödeker (1901 – 1905); Oskar Drost (1905 – 1913); Emil Mücke (1913 – 1919).
Alle waren vom ersten Tag ihrer Amtshauptmannstätigkeit an zugleich Vorsitzende des Altertumsvereins, keiner stammte aus Jever. Dies war natürlich kein Zufall, es bedeutete die Nähe zur Administration und verlieh dem Verein politisches Gewicht, und dies war von der großherzoglichen Regierung so gewollt. Wenn die Vorsitzenden keine Jeveraner waren, so barg das die Chance nüchterner Distanz. Dem ersten Vorsitzenden, Baurat Tenge, standen zur Seite Ratsherr L. Mettcker, zugleich Vertreter der Familie, die das örtliche Pressewesen lenkte, Ratsherr Müller, Landwirt Brader, zwei Kaufleute, Ukena und Remmers, vor allem der Lehrer Diedrich Hohnholz, dem der Verein im Grunde das Museum verdankt und der jahrzehntelang bis 1924 über alle Wechsel der Zeiten das Museum aufbaute. Tenge wurde bereits vor der ersten Vorstandssitzung des neuen Vereins nach Oldenburg versetzt, sein Nachfolger wurde der neue Amtshauptmann Hayessen. Ihm oblag es, den Antrag an das großherzogliche Staatsministerium auf Überlassung des Obergeschosses der ehemaligen Festungshaftanstalt für die Präsentation der bisher gesammelten
Altertümer zu stellen. Das war schon im Herbst 1887 der Fall. Das Museum war gegründet, wenn auch nur in zwei Räumen und einstweilen nicht öffentlich zugänglich. Der jeweilige Vorsitzende besaß die Kompetenz, die Anliegen des Vereins bei der Regierung in Oldenburg zu artikulieren, was wichtig werden sollte für die weiteren Standorte des Museums, zunächst seit 1901 im ehemaligen Gymnasium an der Drostenstraße. Er war ferner gegenüber der Stadt Jever ein Vertreter der Obrigkeit und konnte erreichen, dass die seit jeher im Rathaus verwahrten Insignien der städtischen Tradition wie die Ratskanne von 1536, wie Elle, Hörner, Schnarren und andere Symbole der kommunalen Aufsicht über Maße, Gewichte, Brandschutz und Polizeigewalt in die Obhut des Vereins gegeben wurden. Das war ein deutliches Zeichen des Interesses sowohl der Stadt als auch des Amtes am Aufbau des Museums. Mehr als 25 Jahre hat sich diese Konstellation durchgehalten, als vorteilhaft für den Aufbau des Museums erwies sich die 12-jährige Amtszeit von Heinrich Zedelius (1888 – 1901). Dies ändert sich, als sein drittnächster Nachfolger, Amtshauptmann Mücke, Jever im November 1913 verlässt. Die Aufgaben des Amtes werden in der Kriegszeit seit 1914 komplizierter, und angesichts der Tatsache, dass das Schloss zu Jever kaum noch für die repräsentativen Bedürfnisse des Großherzogtums benötigt wird, wachsen die unterschiedlichen Begehrlichkeiten. Einerseits benötigt das Museum dringend Raum und hat die Traditionsräume des Schlosses im Blick, andererseits will auch die Behörde hinein, deren Repräsentant schon lange im Amtshauptmannshaus residiert, dem Schloss vorgelagert. In dieser Situation gerät der neue Vereinsvorsitzende, der städtische Bürgermeister Dr. Hans Urban, in einen Interessenkonflikt. Einerseits ist er im Namen des Vereins mitverantwortlich für den Standort des Museums und hat, was das Schloss angeht, in erster Linie die örtlichen Gesichtspunkte im Blick, andererseits ist er als Bürgermeister verantwortlich für die Schulstandorte. Nun ergibt es sich, dass das städtische Lyzeum in die leer stehenden Klassenräume der Drostenschule zieht. Es zeigt sich, dass für den Schulbetrieb unbedingt auch die Aula, also der Standort des Museums, benötigt wird. Die Entscheidung über die Zukunft des Schlosses ist noch nicht gefallen. Noch verfügt der Großherzog darüber. So ist die Auslagerung des Museums in das einzig verfügbare Haus der Stadt, die ehemalige Bleekerschule am Mooshütter Weg, unumgänglich. Immerhin trägt die Stadt die Umzugskosten. Das alles geschieht im Sommer 1918. Wenige Monate später ist der Großherzog abgesetzt und das jeversche Schloss steht zur Disposition. War eben noch die Doppelverantwortung des Bürgermeisters ein Hindernis, jetzt erweist es sich als nützlich, dass nicht mehr der Amtshauptmann, der Repräsentant des neuen Freistaats Oldenburg, Vorsitzender ist, sondern der Bürgermeister der Stadt. Urban und Hohnholz, die Vertreter städtischer Gewalt und musealogischer Kompetenz, können in Oldenburg mit der neuen, noch reichlich unerfahrenen neuen demokratischen Regierung, die sich durchaus noch im hergebrachten Sinn als Obrigkeit versteht, verhandeln. Die Verhandlungen verlaufen ergebnisoffen und werden durch den plötzlichen Weggang Urbans im Juni 1919 nach Verden nicht einfacher. Der Verein setzt einstweilen die Wahl eines neuen Vorsitzenden aus und überträgt Diedrich Hohnholz die kommissarische Leitung. Dieser nun hat in Oldenburg die Verhandlungen weiterzuführen. Die zeitgleichen Verhandlungen der neuen Regierung unter Minister Scheer mit dem zurückgetretenen Großherzog Friedrich August über die Zukunft des jeverschen Schlosses ziehen sich hin, die Eigentumsfrage am Inventar ist einstweilen ungeklärt. Die Wünsche des Vereins auf Erwerb wichtiger Gegenstände bleiben unbeantwortet, besonders die Eigentumsfrage an Bildern, Gobelins und Ledertapeten ist offen. So vergeht mit vielen Sitzungen in Oldenburg und in Jever das Jahr 1919. Es ist die alte Frage, die schon vor dem Krieg die Verantwortlichen bewegt hat. Die Regierung braucht Räume im Schloss, das Museum will hinein. Das Amt beansprucht ausgerechnet die Repräsentationsräume im Obergeschoss, der Vereinsvorstand möchte verständlicherweise gerade sie für das Museum haben. Ende des Jahres, am 10.12., wählt der Vereinsvorstand den neuen städtischen Bürgermeister Dr. Müller zum neuen Vorsitzenden. Diese Wahl hat Signalcharakter. Einerseits kann Dr. Müller, gemeinsam mit Pastor Gramberg jun., in Oldenburg verhandeln, andererseits aber ist er der Sachwalter einer neuen politisch ganz rechts anzusiedelnden populistischen Bewegung die nach dem Niedergang der Monarchie einen enormen Aufschwung erfährt und die uns gleich noch beschäftigen wird.
Die Verhandlungen mit Oldenburg gehen immerhin schnell voran. Am 16.1.1920 beschließt der Verein eine Eingabe an den Oldenburgischen Landtag, schon im April kann man im Protokollbuch die Notiz über den bevorstehenden Umzug ins Schloss lesen. Am 10. September 1921 ist es endlich soweit. Im Rahmen eines zweitägigen Heimatfestes wird die Wiedereröffnung des Museums im Schloss gefeiert. Der ausführliche Bericht über dies Ereignis im Protokollbuch endet mit
einem höchst auffälligen Satz: "Und man darf annehmen, dass der Jeverländische Verein für Altertumskunde durch die Wiedereröffnung des Museums am 10. September sein Teil beigetragen hat zur Hebung des Heimatgefühls und zur Stärkung des vaterländischen Sinnes zum Wohle Alldeutschlands!" (S. 94).
Das sind neue Töne, die bisher nicht in den so sachlichen Stil des Protokollführers Hohnholz eingeflossen sind. Und diese Töne machen nun Schule, sind schon seit ein paar Jahren vernehmbar. Es beginnt eine ganz neue Phase in der Vereins- und Museumsgeschichte. Was ist geschehen?
Seit Juli 1917 ist Pastor Carl Woebcken aus Sillenstede Mitglied des Vereinsvorstands. Bei der Lektüre der Protokolle fällt auf, dass er nur ein einziges Mal an den Vorstandssitzungen teilnimmt, nämlich an der seiner eigenen Wahl am 19.7.1917. Bis Januar 1921 tagt der Vorstand 14mal ohne Woebcken, von April bis August 1921 nimmt er dann aber auffälligerweise an vier aufeinander folgenden Vorstandssitzungen teil. Das hat Gründe.
Seit dem 4.9.1920 ist Carl Woebcken nämlich zugleich Vorsitzender des neu gegründeten Heimatvereins, der ganz andere Ziele verfolgt als der Altertumsverein. Sein örtlicher spiritus rector ist Redakteur Lange vom Wochenblatt, der in einigen Jahren die Zeitung in den Faschismus führen und volkspädagogisch, um nicht zu sagen: demagogisch wirken wird. Schriftführer des neuen Heimatvereins ist der Auktionator August Blikslager, auch einer der Wegbereiter des Nationalsozialismus in Jever. Er setzt mit seiner Handschrift dem Protokollbuch des neuen Heimatvereins ein Motto aus der Feder des Schriftstellers Paul Lindenberg voran: "Zum Licht empor mit klarem Blick / Ein Vorwärts stets, nie ein Zurück,/ Ein frohes Hoffen, kühnes Streben/ Und schnelles Handeln auch daneben - /Dann hat das Dasein Zweck und Ziel, / Wer Großes will, erreicht auch viel." Das sind auffällige Töne. Der heute vergessene Autor von Reise- und Kriegserzählungen Paul Lindenberg hat von 1859 bis 1943 gelebt. "Von Preußens Erwachen zu Deutschlands Größe", "Unter Lettow-Vorbecks Fahnen in Ostafrika" und "Das Buch vom Feldmarschall Hindenburg", letzteres 1920 bei Stalling in Oldenburg erschienen, sind einige seiner 46 Titel in der Dt. Nationalbibliothek. Der neue Heimatverein hat sich mit dieser Mottowahl zugleich ein Programm verordnet, das den politischen Utopien der Zwischenkriegszeit entspricht. Der Einzelne findet seine Daseinserfüllung in der
Selbstverwirklichung innerhalb der Volksgemeinschaft in der Diesseitigkeit. Es sind ganz andere Schwerpunkte, die nun gesetzt werden. Heimatabende sollen veranstaltet werden, das Gefühlsleben wird angesprochen mit volkstümlichen Liederabenden und oft plattdeutschen Laienspielen der 1921 gegründeten Speeldeel, mit einfach verständlichen Vorträgen. Die Bürger werden nun eingeladen, sich direkt in die Politik der Stadt und des Amtes Jever einzumischen, zum Beispiel sich in Protestlisten einzutragen gegen den Bau einer Reithalle über der Blankgraft.
In diesen Kontext gehört auch das Heimatfest, mit dem der Altertumsverein, nun deutlich beeinflusst, um nicht zu sagen: unterwandert vom neuen Heimatverein, 1921 das Museum im Schloss eröffnet. Die beiden Vereine sollen einander ergänzen, Verbindungsmann ist Pastor Woebcken, der es versteht, mit seinen volkstümlichen und in immer neuen Auflagen erscheinenden Büchern seinem Wirken einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Und er hat damit nachhaltig gewirkt, wenn auch seine Forschungsergebnisse wissenschaftlicher Prüfung nicht immer standhalten.
Der Altertumsverein hat sich mit seiner Beschwörung vaterländischen Sinns zum Wohle Alldeutschlands im Jahr 1921 den gefälligen neuen Parolen nicht entziehen können. Heute wissen wir, wohin dies geführt hat. Aber auch damals währte das Nebeneinander beider Vereine nicht lange ohne Konflikte. Im Heimatverein musste man bald feststellen, dass das Interesse der Bevölkerung an populären Theaterabenden nicht lange wachzuhalten ist. Zwei ähnlich gelagerte und doch so unterschiedlich ausgerichtete Vereine vertrug das kleine Jever nicht. Am 29.10.1923 haben sie fusioniert. Dr. Müller, bisher Vorsitzender des Altertumsvereins wird nun Vorsitzender des Jeverländischen Altertums- und Heimatvereins und bleibt in diesem Amt, bis er 1935 juristischer Oberkirchenrat in Oldenburg wird. Die Arbeit wird nun in 4 Ausschüssen getan: der erste ist der Museumsausschuss, dem unter dem Vorsitz von D. Hohnholz alle bisherigen Vorstandsmitglieder des AV angehören. Er arbeitet selbständig ohne Einflussnahme der anderen Ausschüsse. Dem Heimatausschuss steht Pastor Woebcken vor. Speeldeel und Büchereiausschuss bleiben einstweilen offen. Friedrich Lange wird Schriftführer und sichert auf diese Weise die ideologische Ausrichtung des gesamten Vereins. Sein Stellvertreter ist weiterhin August Blikslager, der im gleichen Sinne arbeitet.
Die Protokolle der folgenden Jahre lassen allerdings erkennen, dass unter der Leitung von Dr. Müller und mit den Ausschuss-Vorsitzenden Hohnholz und Woebcken die Vereinsarbeit in ein sachliches Fahrwasser gelangt ist. Die Öffentlichkeitsarbeit durch Schriftleiter Lange entspricht dem Stil der Zeit. Als Georg Janßen-Sillenstede und Heinrich Wille in die Vereinsarbeit eintreten, hat dies einen weiteren versachlichenden Einfluss. Mit dem Weggang von Bürgermeister Müller nach Oldenburg geht der Vorsitz auf den Nachfolger im Rathaus, den Kaufmann Martin Folkerts, über. Seine Wahl ist ein Beleg dafür, dass die seit der Zusammenlegung der beiden Vereine wirksame Tendenz sich durchhält und verstärkt. Folkers gilt als linientreuer Nationalsozialist. Unter seiner Regie war es möglich, dass der Verein den politischen Wunschvorstellungen jener Jahre die historische Forschungsarbeit unterordnete. Genannt sei das Projekt der friesischen Trachtenpuppen, die ohne ein wirkliches historisches Vorbild entwickelt wurden, weil dies eben politisch gewünscht war. Jeder Gau des Reiches hatte bzw. sollte haben seine eigene Volkstrachtentradition. Dieser behaupteten Wahrheit wurde dann die Wirklichkeit untergeordnet. Dasselbe gilt für Georg Janssens Sammlung von friesischen Hausmarken, für die es zwar Vorbilder gegeben hat, die aber mit ihren an Runen gemahnenden Zeichen durchaus nicht als der Weg zum Hakenkreuz zu verstehen sind. Das dritte Beispiel sei die 400-Jahrfeier Jevers, die 1936 im Tausendjährigen Reich zur 1000-Jahrfeier umstilisiert wurde. Der in Oldenburg lebende Jeveraner Karl Fissen hat im Auftrag der Stadt, deren Bürgermeister Folkerts war, bei Stalling den ersten Teil der Festschrift herausgegeben, zu der Gauleiter Carl Röver das Geleitwort beigesteuert hat. Den zweiten Band, diesmal bei Mettcker auch 1936 als "Jeversche Volkskunde" im Auftrag der Stadt erschienen, ist am Eingang mit dem Ehrenbürgerbrief Hitlers geschmückt. Fissen hat diese Volkskunde 1960 ohne die fragwürdigen Zeitbezüge und mit einer in der Einleitung nur und hoffentlich verschämt angedeuteten Angabe der ideologischen Vorlage aus der NS-Zeit ein zweites Mal herausgegeben, diesmal unter dem Titel "Jever – Volkskundliches aus einer kleinen Stadt und ihrer Landschaft." Die ursprünglich bei der Stadt liegenden Herausgeberrechte waren wohl auf den Verfasser übergegangen, Vorsitzender des AHV war im Jahr 1960 wiederum Martin Folkerts, der sein Amt nach dem Krieg mit einer fünfjährigen Unterbrechung durch Bürgermeister Kampf und kurzfristig 1950 noch durch OKD Dr. Karl Steinhoff am 6.12.1950 wieder erlangt und noch einmal 20 Jahre bis 1970 innegehabt hat. Die Symbiose von staatlicher, städtischer Obrigkeit und Vereinsvorstand hat sich durch die wechselnden Systeme hindurch fortgesetzt. Das blieb auch noch so, als Martin Folkerts 1970 durch Ommo Ommen abgelöst wurde, der seinerseits 1970 bereits 9 Jahre als ehrenamtlicher Bürgermeister der Stadt amtierte.
M. Folkerts hat es in den 30er Jahren immerhin geschafft, die Museumsräume im Schloss erheblich zu erweitern, die Sammlung zu vergrößern. Die im Vorstand tätigen Herren, ich nenne nur Georg Janssen, Heinrich Wille, Dr. Andrée und Fritz Bulling, waren ausgewiesene Kenner ihrer Heimat und haben bei allen weltanschaulichen Verstrickungen das Museum mit ihrem ehrenamtlichen Engagement durch die Zeit gebracht. Sicherlich hat die Tatsache, dass die Pressearbeit nun nicht mehr durch Schriftleiter Lange, sondern durch den ausgleichenden und bedächtigen Redakteur Heinrich Wille geschah, der zugleich Protokollfüher war, einen positiven Einfluss gehabt. Die Namen Woebcken, Blikslager und Lange erscheinen in den Protokollen nun nicht mehr. 1937 hat Georg Janssen die ehrenamtliche Museumsleitung übernommen. Die überregionale öffentliche Wahrnehmung des Museums und seiner Sammlung wird in den Protokollen durchgängig lobend erwähnt. Dabei bleibt es während der Kriegsjahre. 1945 scheint sich der bisherige Vorstand aufgelöst zu haben, Fritz Bulling war im Krieg gefallen, Martin Folkerts lebte auf Wangerooge. Im Herbst gibt es eine kleine Pressenotiz: "Heimatverein wiedererstanden". Der Jev. AHV habe mit Genehmigung der Militärregierung seine Tätigkeit wieder aufgenommen. Vorsitzender ist nun Bürgermeister Kampf, ein früherer Diplomat des AA in der Türkei, Stellvertreter ist Dr. Karl Steinhoff, Schriftführer Heinrich Wille, dazu etliche ausgewiesene Kenner der Region wie Johann Ahrends, Zissenhausen, Dr. Andrée, OKR Müller-Jürgens und Eberhardt Hanken-Grappermöns. In den Nachkriegsjahren nimmt das Angebot von öffentlichen Vorträgen auffällig zu, dies geschieht auch im Hinblick auf die vielen Neubürger (22.6.46). Mit der Gründung der Bundesrepublik 1948 und den folgenden Jahren der kulturellen Neubesinnung erfährt die Arbeit des Vereins einen Aufschwung, das Museum und die Vortragstätigkeit werden verstärkt gefordert, die Besucherzahlen des immer noch ehrenamtlich geführten Hauses steigen, zugleich aber sinken die Zuschüsse der öffentlichen Hand. Ein Beispiel: 1952 weist der Kreishaushalt einen Zuschuss von 2000 DM für Museumsarbeit aus, dieser Betrag aber fließt nach Varel, dessen Heimatverein nach der Währungsreform noch gar keinen Zuschuss erhalten hat. Hätte es nicht einen so engagierten Vorstand gegeben, insbesondere der Einsatz von Dr. Hans Sjuts und Hans-Wilhelm Grahlmann, später auch Friedrich Orth sind hervorzuheben, die Forderung nach einer professionellen Leitung wäre schon viel eher gestellt worden. Insbesondere seit den 70er Jahren kommt mit der Zunahme des Tourismus die Leitung an ihre Grenzen. Die Präsentation des nun auf 60 Räume angewachsenen Museums entspricht nicht mehr zeitgemäßen Vorstellungen. Zugleich aber steigen wegen der zunehmenden Bedeutung des Tourismus die Anforderungen an den Verein. Von 1970 bis 1985 stand OStR Ommen dem Verein vor, für 2 Jahre folge Rektor Christoph Breske, bis 1987 für 7 Jahre Hermann Neunaber, Vorstandsmitglied der Raiffeisenbank Jever, den Vorsitz übernahm. In dieser Zeit trieb der OKD des LK Fri, Dr. Eckart Bode, die Diskussion voran und überzeugte Kreistag und Stadt Jever von der Notwendigkeit einer Neuaufstellung der Museumsarbeit, die vom Heimatverein nicht zu leisten war. Im Jahr 1986, dem 100-jährigen Gründungsjahr, wird der erste hauptberufliche Museumsleiter Dr. Uwe Meiners eingestellt, bis dahin tätig an der Uni Münster. Er löst Hans-Wilhelm Grahlmann ab, der das 14 Jahre lang ehrenamtlich und fast ohne finanzielle Entschädigung mit seinem großen Wissen und der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit geleitet hat. Mit Uwe Meiners beginnt eine neue Ära des Hauses, die wissenschaftliche Arbeit tritt in den Vordergrund, das Periodikum "Objekt des Monats" erscheint, die Zahl der Wechselausstellungen nimmt zu.
Am 1. Juli 1990 wird der Zweckverband Schloss- und Heimatmuseum gegründet, dessen Mitglieder der Landkreis, die Stadt und der AHV sind. LK und Stadt bringen die finanziellen Mittel in den Verband ein, der AHV die Museums- und Archivbestände. Die Geschäftsführung übernimmt der Museumsleiter. 10 Jahre bleibt Uwe Meiners in Jever, bis er ins Museumsdorf Cloppenburg wechselt. Seine Nachfolgerin wird Dr. Antje Sander, die bis heute das Haus mit großem Erfolg leitet. Die Sammlungen werden nach und nach neu konzipiert, die Renovierung des Hauses in vielen Schritten und mit charmant eingeworbenen Zuschüssen in mehrfacher Millionenhöhe vorangetrieben. Viele richtungsweisende Ausstellungen haben den Namen unseres Museums weithin bekannt gemacht. Der Mitarbeiterstab nimmt seither erheblich zu, die Kooperation mit den Museen der W-E-Region erweist sich als Motor. Der AHV ist in dieser Zeit ein wenig in den Hintergrund getreten. Als Mitträger des Museums begleitet er die Arbeit mit Engagement, wäre aber längst am Ende ohne die genannte wirtschaftliche Konsolidierung und Professionalisierung. Da der Zweckverband aus politischen Gründen nicht imstande ist, kommunale Mittel von Landkreis und Stadt für die Fortsetzung der Sammeltätigkeit des Museums in den Haushalt einzusetzen, müssen die Sammlungen anderweitig ergänzt werden, wenn wir nicht unsere Grundaufgabe, die einst so genannten "Altertümer" der Region für die Nachwelt zu sichern, aus den Augen verlieren wollen. Der vor einigen Jahren gegründete Freundeskreis leistet hier einen hervorragenden Beitrag, unterstützt und ergänzt durch private Stiftungen und die freilich bescheidenen Mittel des Gründervereins.
Große Resonanz erzeugt unser Verein heute durch die Angebote der Schlossvorträge sowie mit seinen Arbeitskreisen. Der familienkundliche AK um Heino Albers und Ewald Esselborn mit ihren vielen Mitarbeitern, der heimatkundliche unter der Regie von Horst Radowski mit dem attraktiven Vortragsangebot, die Plattdeutschen Abende im Anton-Günther-Saal, vorbereitet von einem Team um Horst Janßen, LiteraTEE organisiert von Uta Esselborn und seit einiger Zeit der AK Juden in Jever, sie prägen heute das Erscheinungsbild unseres Vereins. Im September werden sie jeweils ihre Arbeit vorstellen.
Wie sieht Jever im Jahr 2011 aus? Wir leben in einer Stadt, von der mit einigen Abstrichen gesagt werden kann: Sie hat sich ihr in Jahrhunderten gewachsenes Bild bewahren können. Das ging und geht nicht ohne Konflikte vonstatten. Drei Beispiele zum Abschluss:
1975 entstand am Alten Markt ein neues Sparkassengebäude. Der Einspruch gegen die Architektur folgte schnell und von vielen Seiten, aber zu spät. Kritik wurde als Beleidigung empfunden. 36 Jahre später wird das Haus nun wieder abgerissen und ein Neubau entworfen, nunmehr, wie man hört, sensibler in die Umgebung eingeordnet. Das Verständnis für Denkmalpflege hat sich gewandelt.
1999 wollte das Friesische Brauhaus im Einvernehmen mit der Stadt Jever auf dem Gelände vor der Blankgraft anstelle des Johann-Ahlers-Hauses ein neues Verwaltungsgebäude errichten. Dies Vorhaben ist durch eine Initiative aus Bürgern, Presse und Denkmalpflege am Protest der Öffentlichkeit gescheitert.
Um 2005 wurde der Kirchplatz auf Wunsch und Veranlassung der Stadt Jever neu gestaltet, eine seit langem fällige Maßnahme. Die dadurch erforderlichen archäologischen Untersuchungen wurden zunächst ehrenamtlich durch Mitglieder des AHV vorgenommen, bis sich schließlich nach langem Zögern die Stadtverwaltung und der Rat der Sache annahmen. Hier überwogen die Angst vor den Kosten und möglichen Bauverzögerungen und den dadurch befürchteten Protesten aus der Anliegerschaft die Einsicht in die Notwendigkeit.
Wer in den letzten Wochen durch die St. Annenstraße geht und zusieht, wie die Baugrube in großer Tiefe ausgehoben wird, der wird dankbar sich erinnern, dass bis vor wenigen Wochen die erfreulicherweise von der Stadt Jever eingesetzten Archäologen sehr wertvolle Erkenntnisse über die Siedlungsgeschichte dieses Altstadtquartiers zutage gefördert haben. Diese Erkenntnisse wären heute nicht mehr möglich, da die Fundamente des geplanten Kellers etliche Meter unter der je zuvor besiedelten Schicht liegen.
Wir leben gern in einer Stadt, deren Dimension sich in den letzten 125 Jahren grundlegend verändert hat, eine ganz normale Entwicklung. Wir betrachten manches alte Bild mit Wehmut, sehen aber auch, wie Bürgersinn und öffentliche Hand dieser Stadt ein freundliches Gesicht geben. Der AHV darf sich zugute halten, diese Entwicklung neugierig und kritisch begleitet zu haben. Die Stadtentwicklung um der Bürger und der Gäste willen zu begleiten, mit dem Museum, den Ausstellungen und Vorträgen historisches Interesse zu wecken und zu wahren, das sind die Aufgaben des Vereins.
Am 15. November feiern wir im Schloss mit einer festlichen Veranstaltung den Tag, an welchem 1886 der Verein gegründet worden ist. Wenn wir heute die Ausstellung beschlossen haben, an der unsere Museumsmitarbeiter die Anfänge vorgestellt haben, dann nehme ich die Gelegenheit, allen ganz herzlichen Dank zu sagen für die viele getane Arbeit.
|